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05 Dezember 2010

Übeltäter



Die Brücken der Freiheit


Ich liege auf meiner Couch. Mit heißer Wärmflasche auf den Füßen und ner Kanne frisch gemachtem Tee neben mir. Mir ist kalt. Ein bisschen. Aber ich wollte ja raus. Nur was Harmloses machen. Die Geschichten der Kollegen über ausgerenkte Schultergelenke und kleine Finger mit Kapselriss gerade in der letzten Woche machen ja vorsichtig. Spätestens seit man weiß, dass ein Examen unter Schmerzmitteln nicht geschrieben werden darf und mit einem halben Jahr längerem Dienst bestraft wird. Also will ich nur ein bisschen im Schnee tollen. Weil ich es erst etwas spät gemerkt hab, dass der jetzt da ist. Erst, nachdem ich nach drei Wochen intensivem in-die-Bücher-Gestarre, auf dem Weg zum Prüfungsgebäude habe ich mich fragen müssen: „Scheiße- wann hat das so viel geschneit und wann ist das so verdammt kalt geworden? Vor drei Wochen saß ich doch noch mit Kaffee am Strand!“ Aber ich mag den Winter und den Schnee. Also wurde der zweite Adventssonntag bei den Eltern gegessen und für den Nachmittag geplant, auf dem Heimweg am See vorbei zu laufen. Ein bisschen Enten füttern und sich freuen. Vergessen dass nur ein Viertel der Prüfungen geschafft ist. Gesagt, getan. Den Gefrierbeutel mit Keksen für mich und Brot für den Weihnachtsbraten gepackt und losgestiefelt. Dort angekommen, findet man aber lediglich eine kleine Ente auf. Die ist gar nicht scheu und freut sich, dass sie heut allein ist, weil dann mehr abfällt für sie. Klettert einem auf die Füße und macht lieb große Augen. Und weil ich als Mädchen das natürlich unheimlich putzig finde, geh ich mit der Kamera in die Knie, um ein paar schöne Schnappschüsse vom Sonntagsausflug zu bekommen. Das mach ich ungefähr 10 Sekunden, bis mir jemand ins Fleecegeschütze Ohr faucht. „ZZZccchhhhhhhhhhhhhhhh!“ Das kommt mir komisch vor. Hier war doch niemand mehr. Guggste lieber mal nach, denk ich mir. Ach du große Neune- das ist ein Schwan der seinen Kopf da über meine Schulter hängt. Ganz im Ernst, jetzt bekomm ich Panik. Denn nachdem das niedliche kleine Entchen sich den Bauch vollgeschlagen hat und jetzt zufrieden davon wackelt, ist noch eine halbe Scheibe Brot da und hinter dem ersten Schwan kommt ein zweiter angeflattert. Okay. Schwäne sind schön. Aus der Ferne. Aus der Nähe machen sie mir Angst. Gerade weil mir Zweifel aufkommen, das diese zwei Riesentiere von einer halben Scheibe satt werden. Aber ein Versuch ist es wert. Also kleine Krumen machen und immer schön weit von sich weg werfen während man selbst kleine Schritte Richtung Straße macht. Dacht ich mir. In Wirklichkeit lief es aber eher so, dass die zwei sich in voller Länge vor einen hingestellt, einem das Essen aus der Hand gerissen und immer weiter Richtung See getrieben haben. Und wie es der Zufall will, reicht die halbe Scheibe Brot genau so weit, bis man am Ufer steht. Mit zwei hungrigen, wütenden Schwänen vor sich. Hinter sich fünf Meter gefrorenes Wasser und dahinter ein Berg. Ungefähr eine Zehntel Sekunde Zeit zu überlegen, bevor sich der Schnabel in die nackte Hand bohrt. Ich brauch die Hand. Sonst kann ich doch nicht schreiben. Deswegen bleibt nichts anderes übrig. Risiko. Ich dreh mich um und lauf am Rand des gefrorenen Sees so schnell ich kann, um über den Berg und nur weg zu kommen. Und wenn mir jetzt nochmal einer erzählt, man hört Eis knarzen bevor man einbricht, dann erzähl ich dem mal die Geschichte. Denn eigentlich ist es so: Schritt, Schritt, Bruch. Kein Geräusch, das einem darauf vorbereitet gleich bis zu den Knien in halb gefrorener Seeplörre zu stehen. Danach ja, da kommt ein Geräusch. Aber dass setzt sich zusammen aus einem „SSSccchhhlllllüüüff!“, also Eiswasser welches in Windeseile durch Hose und Schuhe strömt, übertönt von einem ungläubigen „Verflixte Kacke, das kann doch jetzt nicht wahr sein!“ und einem Schrei hinter mir „Mach schneller, die Schwäne kommen!“

Titel: Die Brücken der Freiheit
Autor: Ken Follet