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16 September 2011

let me steal this moment from you

Der Schatten des Windes


Ich bin wieder angekommen. Zu Hause. Bei meinem Universum. In den grünen Wänden. Mit einem Koffer in der Hand, voll mit Tausenden von Bildern, ein paar Steinen, einer Mandelentzündung, einem halbwegs gelinderten Fernweh und einem unterdrückten ökologischen Gewissen, dass die geschrubbten 3230 Kilometer ganz schnell vergessen muss. Viel lieber soll es sich erinnern an:
Ein Open Air mitten auf dem Schlossplatz, mitten in der Landeshauptstadt, mitten in der Abendsonne, mittendrin mit roten Luftballons, blauen Halstüchern und feuchten Händen. Mit einem wieder funktionierenden Knie, mit leicht wippenden Hüften und dem Wunsch nach sofortiger Wiederholung. Und da dem nicht entsprochen werden kann, mit einer spontanen Entscheidung die Gunst der Stunde samt ihren unerwarteten sommerlichen Temperaturen zu nutzen und das historische Erbe der Stadt zu besuchen. Den früheren privaten Rückzugsort des Königs- heute einer der schönsten Tierparks mitsamt botanischen Garten, was mich einen Großteil meines Speicherplatzes kostete.
Oder an eine Stadt, in deren Schlossgarten ich die ersten Äpfel des Jahres stibitzen und den Mauereidechsen dabei zusehen konnte, wie sie sich die Sonne auf die Schuppen scheinen lassen. In der ich gelernt habe, wer eigentlich Friedrich Hölderlin war und warum dieser kleine Turm an der Neckar so oft fotografiert wird. In der ich Pommes mit Mayo gegessen habe, während sich Touristen in Stocherkähnen an mir vorbei haben schippern lassen. Und in der ich letztlich doch vergessen habe, mir eine Flasche Wein mitzunehmen. Was letztlich aber eigentlich auch egal ist, da es dergleichen sowieso in jedem Supermarktregal gibt. Denn die haben soviel davon, die verkaufen den sogar.
Oder an eine Stadt, in der ich mich und meine Ersatzhose vergessen habe und mitsamt Kissen, Decke, Nachthemd und einer genauso Verrückten in einen Tümpel gesprungen bin, auf dem ich es mir später in einem Ruderboot hab gut gehen lassen. Einen Tümpel, der seinen zarten Modergeruch erst freigegeben hatte, nachdem man bis zur Hüfte drin stand. Der sich in Kissen, Decke und Hose festgesogen hat und im Zug für ein freies Abteil nur für mich allein gesorgt hat. Einen Tümpel, der einen in sich bis zu den Knien hat einsinken lassen und einen nicht mehr freigeben wollte. Einen Tümpel, an dem sich, wie sich erst zu spät herausgestellt hat, Zecken pudelwohl fühlen, sodass ich ihm meine „Jetzt-muss-es-aber-fix-gehen“-Typhusimpfung mit dreitägigen „Auf-dem-Hintern-kann-ich-nie-wieder-sitzen“-Gefühl zu verdanken habe. Eine Stadt aber, in der es ebenfalls große Streetart zu bestaunen, leckeres Bruschetta zu essen, erfrischende Weinfeste zu feiern, goldene Hufe zu betatschen, winzige Gassen zu durchquetschen, viele Züge zu verpassen und kleine Konzerte zu genießen gibt. Kleine Konzerte in privater Sphäre. So privat, dass ich in dem fünfzig Quadratmeter großem Club locker mit dem Rhönrad hätte meine Runden drehen können, waren doch zehn Minuten nach offiziellem Konzertbeginn nur 16 Gäste da.
Oder an einen Badeort an der äußersten Nordostspitze, der seinen Namen den Tausenden von Muscheln zu verdanken hat, an denen man sich beim barfuß Laufen die Füße aufschneidet. Der dafür aber ein paar Ecken Sand- und auch Rasenstrand, einen Leuchtturm und eine über hundert Jahre alte Militärgeschichte zu bieten hat.
Oder an eine Stadt, die mit kulinarischen Genüssen wie dem Pfannenschlag, der Bregenwurst mit Schweinshirn und dem Zungenragout auffährt. Die aber getrost links liegen gelassen werden, um als erste Besucherin den 22 Hektar großen Tierpark zu besuchen und ihn als letzte wieder zu verlassen. Um eine Bootsfahrt zu machen, sich von Pelikanen beißen zu lassen und durch Elefantenpipi zu laufen.
Oder an einen Ort direkt neben einem 3000 Hektar großen Nationalpark in dem man zwar in den ersten Morgenröteminuten noch mit Rehfamilien einen Spaziergang machen, aber nicht ohne Flickzeug eine Radtour machen kann. In dem man zerfließende Schiffe und hängende Brücken sehen, Hühnergötter und in Bernstein eingeschlossene Mücken sammeln, das Meer in Nebel verwandeln, Schatten hinterlassen und Steinberge bauen kann. Von wo man noch drei Wochen später die Kreidespuren an der Jacke und den Sand in den Schuhen findet. Von wo man nicht weg möchte und wo man sich verspricht, bald wieder zu kommen.
Oder an einen kleinen Ort, der kaum mehr zu bieten hat, als das beste Restaurant in der Umgebung, einen Prominentenfriedhof, an dem man von zwei grinsenden Totenköpfen begrüßt wird und eine kleine Klosterruine, die aber wiederum so atemberaubend ist, dass sie schon von zwei Lightartkünstlern in einem mehreren Minutenfoto verewigt wurde.
Oder oder oder.

Der Titel ist geborgt bei Carlos Ruiz Zafon