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30 März 2011

Die Legende vom Wegweiser


Sechs Uhr fünfundvierzig blinkt mir mein Wecker entgegen. Ein Geräusch hat mich wach gemacht. Viel zu früh. Ich kann heute eigentlich ausschlafen. Das hatte ich mir wenigstens vorgenommen. Statt dessen muss ich jetzt hier liegen und überlegen, woher das Geräusch kam. Es muss ein neues Geräusch gewesen sein, denn die die ich kenne lassen mich kalt und holen mich nicht aus dem Tiefschlaf. Da ist es wieder. Es kommt aus dem Flur. Und klingt wie ein Schlüssel, der mit aller Gewalt ins Schloss gepresst wird. Hä? Wie geht das denn? Es gibt nur zwei Schüssel. Einer ist irgendwo in meiner Handtasche begraben, der andere liegt vierhundertfünfzig Kilometer entfernt in einer Hosentasche einer Hose, die gelangweilt über einen Stuhl hängt, da der Träger noch nicht aufgestanden ist. Oder hat er sich doch schon früher auf den Weg gemacht und will mich überraschen? Na da will ich ihm doch mal helfen in die Wohnung zu kommen. Ich stehe also auf, humpele zu Tür und öffne diese. Man muss wissen ich sehe dabei folgender maßen aus: Ich habe einen rosa/pinkfarbenen Schlafanzug und eine dicke Wollsocke an. Die andere Wollsocke muss ich mir in der Nacht ausgezogen haben, denn diese ist nicht am linken Fuß wo sie hingehört, sondern in meiner rechten Faust zusammengepresst. Wer weiß, was ich geträumt habe. In der linken Hand befindet sich eine Krücke, die ausschaut als wäre sie ein Werbegeschenk der FDP, was einerseits irgendwie peinlich ist. Aber wenn ich es mir recht überlege, vielleicht gerade das richtige Geschenk für die FDP wäre, zurzeit. Ja und dann noch meine Haare. Meine Haare werden von meinen Freunden liebevoll Mähne genannt. Das zurecht, auch wenn ichs nicht gern höre. Wenn ich diese frisch gewaschen habe und schlafen gehe, wenn diese noch halb feucht sind, sehe ich am nächsten Morgen aus als hätte ich ein explodiertes Osternest auf dem Kopf. Und so steh ich jetzt erwartungsvoll in der Tür. Vor mir steht nicht wie gedacht der Träger der gelangweilten Hose, sondern ein mir völlig Fremder. Okay, bleibst du trotz allen Umständen cool, denk ich mir und sage:
„Schönen guten Morgen der Herr, wie kann ich Ihnen denn behilflich sein? Sind sie der Nachmieter oder haben Sie sich in der Tür geirrt?“ So, da mein Mundwerk es nicht gewöhnt ist, so kurz nach dem Aufstehen irgendetwas zu sagen kommt nur raus:
„Schön Morgen. Kann ich behilflich sein, biste der Nachmieter oder falsche Tür?“ In entsprechend freundlicher Tonlage versteht sich von selber. So. Und da ich aber ein Zähneknirscher bin, meine Eckzähne schon in Schneidezahnform geknirscht habe und ich seither aus nachvollziehbaren Gründen in den einsamen Nächten eine Plastikschiene im Mund habe, kommt am Ende tatsächlich nur Folgendes raus:
„Cchöhenn Morgn. Kanni beiflihs ein, bister Nahmieter oder falhet Ür?“
So. Jetzt hab ich einen kleinen Mann mit offenem Mund vor mir stehen, immer noch mit Schlüssel in der Hand, als wolle er ihn mir in den Bauchnabel stecken, der mit der Situation anscheinend nicht umgehen kann. Also steht er erstmal da. Immer noch. Und immer noch. Jetzt schmeißt er sich die Hände über den Kopf, guckt mich an, ruft laut „Scheiß Nachtschicht!“ und rennt weg. Die Treppe hoch. Aha, das war er also, der Nachbar der seit zwei Jahren über meinem Kopf wohnt. Hätte ich nicht gedacht, dass man sich unter solchen Umständen kennenlernt. Und da ich jetzt eh wach bin und nicht möchte dass sich Derartiges mit den anderen vier Parteien des Hauses wiederholt, überlege ich, welches kreative Türschild man sich an den Eingang hängen könnte, um unliebsamen Besuch zu verhindern. Vielleicht werde ich mir von irgendeiner Landsraße das „Achtung Gefahrenstelle!“ Schild mopsen oder das für Schleudergefahr. Oder ein Umweltzonenschild. Ich denke dann wird man in Ruhe gelassen.

Titel is geborgt bei Michale Ende

28 März 2011

The Balloonman


Der Andere


Ein Feld. Noch unbestellt. Ein paar Krähen hocken drauf und picken nach ein paar übrig gebliebenen Samen. Am Feldrand weit im Westen steht eine kleine Gruppe von Menschen, die ihre Modellflugzeuge im Kreis fliegen lassen. Man hört nur ab und an das Motorengeräusch zwischen dem Vogelgezwitscher. Querfeldein läuft eine Frau mit Ihrem Hund. Ohne Leine, auf die besteht hier niemand. Es ist schön ruhig. Man kann den Hund frei stromern und seine Gedanken frei schweifen lassen. Frische Frühlingsluft einatmen und mit Sandalen auf aufgetaute Erde treten. Je näher die Dame dem Feldrand kommt, desto mehr fällt ihr eine bunte Figur auf. Zuerst nur ein Farbklecks am Horizont. Die Frau hat keine Brille auf. Sie wird neugierig. Große rote, grüne und gelbe Punkte kann sie erkennen. Fiffi, der Hund, ist schon vorausgeeilt. Auch er will wissen, was es dazu entdecken gibt. Die Frau stolpert Fiffi hinterher. Erst als sie vor dem bunten Etwas steht, dieses sie anspricht und einen „Schönen guten Tag, die Dame!“ wünscht, kann sie erkennen, was sie vor sich hat. Da sitzt einer kerzengerade auf einem winzig kleinen Holzhocker, bekleidet mit bunten aufgeblasenen Luftballons und starrt auf das Feld. Das ist unheimlich. Wo hier sonst nie was los ist. Selbst zu Silvester verirren sich hier höchsten zwei Menschen hin, um die Aussicht zu genießen. Aber sonst. Nix. Sie zerrt an Fiffis Halsband. Fiffi jedoch freut sich und möchte den Mann auf dem Holzhocker gern gleich in sein Revier aufnehmen und als solches markieren. Es folgt ein kurzes Gerangel, ein leises Jaulen und das Frauchen hat Fiffi im Griff. Beide gehen nun schnellen Schrittes hinter dem Luftballonmenschen den Berg hinab in Richtung Auto. Es ist nicht weit. Vielleicht zweihundert Meter. Aber schon nach einem Zehntel des Weges treffen sie auf eine weitere komische Gestalt. Sie stolpern beinahe über sie. Denn diese liegt auf dem Bauch im hohen Gras versteckt. Das Einzige was man erkennen kann ist das große schwarze Zielfernrohr, welches sie in der Hand hält. Und womit sie auf die Luftballons oben am Feldrand zielt. Klack! Sie drückt ab. Klack, klack, klack. Und der Mann, der die Luftballons trägt steht jetzt langsam auf und fängt dann plötzlich an wie ein Irrer über Feld und Wiese zu rennen. Die Frau nimmt Fiffi jetzt lieber auf den Arm und rennt den Rest des Weges. Ich möchte noch aufstehen (jetzt wo ich sie erst bemerkt habe), meine Krücken schnappen und ich hinterherhumpeln, um die Situation aufzulösen, aber da ist sie schon im Wagen, hat den Gang eingelegt und eine Staubwolke hinter sich gelassen.
Ehrlich gesagt, mich plagt das schlechte Gewissen. Verschrecken wollt ich niemanden. Ich hätte auch nicht gedacht, dass das so skurril ausschaut, dass die Leute Reißaus nehmen. Und deswegen hol ich direkt Luft bei der nächsten Person, die keine zehn Minuten später an uns vorbei schleicht, und setze gleich zu einer Erklärung an. Diese kommt mir mit einer Rechtfertigung seinerseits aber zuvor: „Entschuldigung, dass ich derart neugierig bin, aber ich bin vom Theater und ich bin zufällig gerade auf der Suche nach kreativen Köpfen, die mit mir zusammenarbeiten wollen und auf Tour gehen würden!“ Na dem Himmel sei Dank, es gibt noch Menschen, die uns normal finden!

Titel is geborgt bei Bernhard Schlink

24 März 2011

Schnellstart


Alles umsonst


So. Ich werde also erstmal nur ganz traurige Geschichten schreiben können. Nachdem mir in mittlerweile vier Sitzungen ein Tetrapack Blut aus dem Knie entnommen wurde, steht jetzt auch für den letzten Zweifler fest, dass das doch was Ernsteres ist. Klasse. Wenn also demnächst erstmal weggelesen wird, ich kanns verstehen. Wer will sie schon hören, die Geschichten über Krankheiten, Tabletten und schlechtes Personal. Ich kann sie ja selbst schon nicht mehr ertragen, hab aber keine Wahl. Und so lieg ich vier verbrauchte Verbände und vier absolut abgefahrene Betäubungsspritzen später im Magneto. Stocksteif und mit klassischer Musik auf den Ohren. Von der Musik allerdings, die mich beruhigen und von der aufkeimenden Klaustrophobie ablenken soll, bekomm ich nichts mit. Magneto ist lauter. Tock tock tock tock tock. Kurze Pause. Tock tock tock tock tock. Und direkt vor den Augen einen Aufkleber, auf dem fett steht: „Vorsicht! Nicht hier in den Laser sehen!“ Und aus dem “Hier“ kommt ein dicker Pfeil heraus, der auf ein winzig kleines Loch im Magneto zeigt, welches man ohne den Aufkleber wahrscheinlich nie gesehen hätte. Und natürlich starrt man jetzt erst recht hinein. In das kleine Loch. Weil mans nicht darf. Tock tock tock tock tock. Kurze Pause. Tock tock tock tock tock. Was kann ich hier denn noch anstarren, damit ich nicht blind werde? Ein Plüschzebra auf Magneto. Tock tock tock tock tock. Eine kaputte Glühbirne in der Lampe. Tock tock tock tock tock. Einen Wasserfleck an der Decke. Das ist ja schön und gut, aber nicht so spannend wie das Loch, in das ich nicht hineinstarren darf. Und so wandern meine Augen wieder dahin. Tock tock tock tock tock. Kurze Pause. Tock tock tock tock tock. Ich muss mich zwingen, die Augen zu schließen. Und anfangen zu zählen. Eins. Zwei. Drei. … Bei vierhundertsechszehn geht die Tür auf und ich darf Magneto verlassen. Yeah. Ich hab mein Augenlicht noch. Jetzt muss ich nur noch vier Stunden im Wartezimmer sitzen, alte Klatschzeitschriften durchblättern, ohne auch nur irgendetwas von deren Inhalt wahrzunehmen und das Gejammer vom Nachbarn überhören. Und dann die großartige Diagnose: „Ja da ist ihnen wohl die Kniescheibe rausgeflogen, hat dabei ein paar Bänder mitgenommen und diese zerrissen, bevor sie wieder in ihre Höhle gekrochen ist!“ Aha. Toll. Und ich will ja nicht angeben, aber das hätte ich doch glatt auch vor zwei Wochen schon erzählen können. Und dafür darf ich jetzt sechshundert Öcken löhnen. Klasse.

Titel ist geborgt bei Walter Kempowski

15 März 2011

Heile Welt

14 März 2011

Der vollkommene Schmerz


Wenn ich ein Hund wäre, ich schwöre man müsste mich erschießen. So sehr leide ich. Der wirklich erste schöne Frühlingstag mit den ersten schönen Frühlingsgefühlen ist dahin. Und er hatte wirklich das Potenzial ein ganz großer zu werden. Aber die grüne Frühlingswiese mit kleinen Krokussen und Schneeglöckchen lass ich jetzt links liegen. Und rechts. Und vor mir. Und hinter mir. Ich lieg nämlich mittendrin, in der Wiese. Nicht auf einer Picknickdecke. Sondern auf der Schnauze. Und kann mich keinen Zentimeter rühren. Im Rücken drückt das noch leicht verdorrte Gras vom letzten Jahr durch das neu gekaufte Baumwollstrickjäckchen. Auf meinen Händen krabbeln mittlerweile kleine Käfer und die Ameisen haben auf ihr anscheinend eine Abkürzung gefunden. Mein Fuß wird kalt. Den Schuh hab ich verloren. Als ich taumelnd vor Übermut den Berg hinuntergerannt bin. Den Campingstuhl in der Hand, den Wind im Rücken und die Flausen im Kopf. Aber die Füße waren noch im Winterschlaf, völlig gewöhnt an die Couch und überfordert mit Geschwindigkeit und Koordination. Vor allem der Linke ist langsam geworden und schaffte es nach den ersten drei Schritten nicht mehr rechtzeitig vor den Rechten zu kommen. Er blieb hängen. Der ganze Körper folgte und flog nach vorne. Die Hände wussten nicht, wie sie reagieren sollen. Sie wollten ans Knie fassen, um es zu schützen, aber ach, da war ja noch der Campingstuhl in der Hand. Also führt ihre Unwissenheit zum Sturz des Knies auf das hölzerne Kreuz des Hockers. Ka-Boom. Ein Schmerz durchzieht den ganzen Körper und in einem Bruchteil von Sekunden sehe ich nicht mein bisheriges Leben vor meinem Auge ablaufen sondern das Zukünftige. Und das findet laut diesem Sekundenbruchteil in einem Rollstuhl statt. Da bin ich mir sicher. Die Kniescheibe jedenfalls freuts. Endlich kommt sie mal raus und kann sich die Umgebung ansehen. Immer nur gerade aus starren ist ja auch nicht die Welt. Man muss auch wissen, was rechts und links von einem vor sich geht. Reisen erweitert den Horizont. Hat sie ja recht. Also lass ich ihr noch ein bisschen den Spaß.
So, jetzt is aber gut. Bevor hier die Dämmerung über mir einbricht, muss ein Ruck durch diesen Körper gehen. Bein einmal mit Vollgas durchdrücken, links und rechts n bissl ruckeln und die Scheibe is wieder daheim. Langsam aufrichten, noch eine halbe Stunde auf dem Campingstuhl die untergehende Sonne genießen und dann einen eineinhalb-Stunden-Marsch die zweihundert Meter zum Parkplatz bewältigen. Ich lass mich abholen und nach Hause chauffieren. Dort angekommen ist das Knie schon auf die ordentliche Größe einer kugelrunden Honigmelone angewachsen. Das ist nur eine Prellung! Das ist nur eine PRELLUNG!! Das ist NUR EINE PRELLUNG!!! Ordentlich Eis drauf packen und morgen is alles wieder heile. Gut, das ich für den Notfall immer Eis im Kühlfach habe. Das ess ich jetzt. Und die Kühlakkus nehm ich mit ins Bett. Leg sie unter und auf das Knie. Ungefähr zehn Sekunden, dann: Scheiße ist das kalt! Ich muss wieder aufstehen und zum Ausgleich ne Wärmflasche machen, die ich auch mitnehme. Das Blut muss ja wieder aufgewärmt werden, bevor es beim Herzen ankommt. Denk ich. Find ich logisch.
Am nächsten Morgen merk ich, dass es das nicht war. Die Kühlakkus waren nach zehn Minuten lauwarm, die Beine dafür von der Wärmflasche verbrüht. Herrlich. Und gebracht hats natürlich nichts. Die Honigmelone ist mittlerweile ein Kürbis und stehen ist nicht mehr drin. Wie gut, dass ich schon als Kind nicht laufen konnte und hier noch die Krücken von der letzten OP rumstehen. Mit denen humpel ich jetzt zum Orthopäden.
„Wie bitte? Sie sind beim Berg runter laufen auf einen Holzcampingstuhl geflogen?“
„Ja bin ich!“
„Gestern?“
„Ja gestern?“
„Und sie waren nicht sofort im Krankenhaus weil …?“
„Es mir zu peinlich war!“
„Okay, dann sag ich Ihnen mal gleich, dass das mit Sicherheit keine Prellung ist.“
„Sondern …?“
„Na schauen Se doch mal auf den Bildschirm, das is alles Flüssigkeit da drin!“
„Wo soll die denn hergekommen sein?“
„Na wo kann die schon hergekommen sein? Da is wohl was gerissen, das is alles Blut!“
Schöne Information. N bisschen eklig aber mal gucken, was noch kommt. Okay, ich werd jetzt auf die Pritsche gelegt. Arzt und Schwester desinfizieren alles. Etwas Eisspray aufs Knie, merk ich kaum. Riesenspritze wird aufgezogen und eine Riesennadel reingepresst. Ich wills nicht sehen. Starr an die Decke. Da sollten sie schöne Bilder hinhängen, so wie meine Zahnärztin das macht, damit man sich ablenken kann. Was machen die jetzt? Die binden mich an der Pritsche fest? Is das so gefährlich? Hallo? Ist das so gefährlich?? Oder steht es so schlimm um mich, dass es nicht mehr lohnt und jetzt die noch brauchbaren Organe rausgeholt werden, um sie gewinnbringend an jemanden zu verkaufen, der sie dringend braucht? Hallo? Hallo????? HALLOOO????
Die Nadel oder soll ich sagen der Strohalm, ist im Knie. Und jetzt wird ordentlich an allen Ecken bzw., Rundungen gequetscht, damit auch schön alles rauskommt. Kurzzeitig seh ich Sterne. Ich drück den Kiefer zusammen (die Zahnärztin wird sich ja so was von ärgern, wenn sie sieht, wie viel dann wieder von den Zähnen abgerieben ist) um keinen Laut von mir zu geben. Wenn ich keine Teilnarkose bekomme, wird das seinen Grund haben. Wahrscheinlich den, dass das jedes zehnjährige Kind aushält.
Es riecht jetzt nach Eisen.
„So das muss sie sich jetzt aber angucken!“ sagt er und die Schwester reicht mir eine Nierenschale, halb voll mit Blut. Fein gemacht. Ich würd euch ja auf die Schulter klopfen, aber das ist grad schlecht. Und schon ist die nächste Nadel drin. „Das muss rein, damits heilt.“ reagiert er auf meinen empörten Blick, bindet die Füße los und fährt mit ihnen Rad. Volles Rohr vor und zurück. Ich möchte ihm gern ins Gesicht springen, aber auch das is schlecht und ich verstehe, wozu ich hier angebunden wurde. Clever. „So in zwei Tagen kommen sie wieder und dann wiederholen wir das. Oder operieren.“ Haste Scheiße am Schuh, haste Scheiße am Schuh. Is halt so.

Titel is geborgt bei Ugo Riccarelli

02 März 2011

Spazieren im Wald

Ein kleiner Selbstmordversuch


Der Wecker klingelt. Ich drück auf die Schlummertaste. Der Wecker klingelt. Ich drück auf die Schlummertaste. Der Wecker klingelt. Ich drück auf die Schlummertaste. Die ersten fünf Mal bekomm ich davon nichts mit. Ich befinde mich noch in einem komatösen Schlaf. Danach zieh ich das locker noch eine halbe Stunde durch. Dafür nehm ich den Wecker auch mit unter die Decke, damit ich keine kalten Finger bekomme, wenn ich die Hand nach ihm raus strecken muss. Das wärs ja noch. Und außerdem kann ich mit der Decke den Ton dämpfen. Ersticken geht ja nicht. Der Tag ist gekommen. Ich bin wieder gesund und muss aufstehen und zur Arbeit. Beine rasieren, Zähne putzen, Bluse überziehen. Aber ich hab halt einfach keine Lust. Ich mag nicht aufstehen. Mach es aber dennoch. Nach fünfunddreißig Minuten. Mit dem falschen Bein.
Auf der Arbeit werde ich herzlich empfangen. Mein Arbeitsplatz ist besetzt. Da sitzt jetzt jemand anderes. Meine Güte, so schlimm krank war ich doch nicht, dass man denken könne, ich komme nie wieder. Auch wenn ich das gerne zum Ausdruck gebracht habe, als ich täglich angerufen und mit einer Stimme, die eigentlich nur noch ein röchelndes Flüstern ist, erklärt habe, dass ich nicht weiß, wie lang es noch dauern kann. Niemand könne sagen, ob die Lungen je wieder frei werden. Gut das war vielleicht einen Ticken übertrieben, aber ich wollt wirklich nur Mitleid haben. Und vielleicht nen bisschen Schokolade. Mehr aber nicht. So und das hab jetzt davon? Ich wurde ersetzt? Klasse.
Ich (kleinlaut): „Ähm soll ich jetzt meine Sachen packen und wieder gehen?“
Er (der Chef): „Wie kommen sie denn auf die Idee? Ich hab hier fünf Akten. Die warten schon auf sie und müssen heut noch raus!“
Ich (immer noch kleinlaut): „Na mein Arbeitsplatz ist aber besetzt … ich muss ja einen Tisch und einen Computer haben, wenn ich ordentlich arbeiten will.“
Er (der Chef, wird jetzt plötzlich ganz rot im Gesicht und bäumt sich auf): „Das kannst ja wohl nich sein, immer kommen sie hierher und wollen arbeiten und dafür nen Tisch und nen Sitzplatz und nen Computer und am besten auch noch Internet, was?“
Ich (nicht mehr ganz so kleinlaut): „Na von Vorteil wär es schon!“
Er (geht ab).
Ich (schulterzuckend hinterherrufend): „Hey?!“Damit ist das Problem doch jetzt nicht gelöst. Ich habe keinen Tisch!“
Ich sehe man hat mich hier sehr vermisst. Und ich hab mich schon gewundert, dass man mir keine Schokolade nach Hause geschickt hat, damit ich schneller gesund werde. Stattdessen hat man Akten gesammelt. Gut, mach ich mir nen Kaffee, leg fünfzig Cent dafür neben die Kaffeemaschine und überlege, wie gut sich so handgeschriebene Schriftsätze machen. Und während ich noch so hin und her überlege, kommt ein neuer Auftrag rein der da lautet: „Machen sie mal eben noch ne Excel Tabelle mit den und den Faktoren! Spezialauftrag, schieben sie das also vor, muss als Erstes gemacht werden“. Okay, das ist jetzt wirklich witzig. Weil die sieht echt doof aus, wenn ich die mit meinem klecksenden Füller aufs Papier zaubere. Ich riskiere es nochmal, verlieren ist ja nicht mehr drin, denk ich: „Na ja, so eine Excel Tabelle geht ganz angenehm schnell von der Hand, wenn man einen Computer hat. So ein Computer ist nämlich eine ganz neue Erfindung, da geht alles viel effektiver. Damit wär das in fünfzehn Minuten drin.“ Ui, schnappt er mit einmal nach Luft. Kein Ton kommt raus. Gut, wir sind heut alle nur begrenz bespaßbar. Die Tür wird geknallt und ich steh wieder auf dem Gang. Um Papierkram reicher und Verständnis ärmer.
Meine Nachfolgerin hat mittlerweile Wind davon, dass ich heut Mülleimer bin und wohl ein schlechtes Gewissen bekommen, sodass ich ihr Netbook verwenden kann, was sie eben noch schnell von zu Hause holt. Das ist wirklich lieb, weil ich so meine Aufträge immerhin erledigen kann (wobei ich mich wirklich frage, warum ich das mit mir machen lasse), auch wenn Augen und Rücken leiden. Um diesen großartigen Arbeitstag zu feiern, denk ich ganz Frau, die ich bin, dass ich mir was gönne. Geld verbrate. Immerhin hab ich von Weihnachten noch einen Gutschein vom Chef. Der Heimweg führt an der Parfümerie vorbei. Ich erinnere mich, dass ich erst kürzlich bei einer Verwandten einen Duft wahrgenommen hatte, den ich meine mir jetzt kaufen zu müssen. Und wie das so ist, hab ich das Gespräch mit ihr nur noch in Fragmenten im Kopf. Das muss irgendwie so abgelaufen sein:
„Hmm…hier riechts aber gut!“
„Oh, danke ich hab ein neues Parfüm!“
„Echt..das riecht klasse.“
„Danke ist jetzt auch mein Lieblingsparfüm.“
„Wie heißt es denn?“
„Oh das gibt’s in so einer kleinen grünen Verpackung und heißt….!“
Da hört meine Erinnerung auf. Aber immerhin, ich habe einen Anhaltspunkt. Kleine grüne Verpackung. Ich renn im Laden hoch und runter. Nur zwei kleine grüne Verpackungen. Jackpot denk ich. Aber zwei kleine Spritzer auf den Papierstreifen zeigen, dass es diese nicht gewesen sein können. Sie riechen nach dem, wie das Parfüm welches daneben steht heißt: nach Lulu. Mittlerweile fall ich auf. Die Verkäuferin tritt an mich heran und fragt, ob sie helfen könne. Und just in dem Moment bin ich mir sicher, dass mir der Name wieder eingefallen ist, weswegen meine Antwort lautet: „Ja ich suche Skunk. Können sie mir sagen, wo das steht?“ Ich ernte einen verständnislosen Blick. Nein das könne sie nicht sagt sie, dreht sich um und geht. Wäre hier eine Tür, würde sie sie mir wohl vor der Nase zuschlagen.
Ich muss dringend mein Englisch verbessern. Aber jetzt erstmal wieder ins Bett!

Titel is geborgt bei Irene Dische