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29 April 2012

Der letzte Sommer


Heute habe ich erschreckend etwas festgestellt: Ich bin ein deutsches Klischee. Gut, ich trage keine Lederhosen. Jedenfalls nicht mehr, seit ich groß genug bin und mich gegen Muttis „Ach komm, das ist niedlich!“ wehren kann. Ich habe auch noch nie eine Maß Bier getrunken und überversichert bin ich mit meiner Haftpflichtversicherung auch nicht. Aber ich sagte ja auch nur, dass ich ein deutsches Klischee bin. Nicht gleich drei, vier oder fünf. Aber vielleicht fange ich auch einfach nur langsam an. Mach mich sozusagen warm: Wer weiß, vielleicht finde ich mich in fünf Jahren in München mit ner Weißwurst in der einen, ner Brezel in der anderen Hand und hochgeschnallten Brüsten wieder. Alles ist möglich. Das will ich jetzt um nichts in der Welt hoffen, aber mein 16-jähriges Ich würde mich heute auch ganz furchtbar peinlich finden. Mein 16-jähriges Ich fand es damals schon zu viel verlangt die Tomaten zu gießen, wenn die Eltern im Urlaub waren. Aber mein 26-jähriges Ich saß im letzten Sommer auf dem Balkon seiner Dachgeschosswohnung und hat ein halbes Jahr neidisch auf den Garten der Nachbarn herunter gestarrt. So viel Platz und nur Rasen. Hach, was könnte man da nicht alles machen. Na, was fällt dem Deutschen ein? (Partys feiern, mit einem Hund rumtollen, in der Sonne baden, Purzelbäume schlagen, grillen (nein, nicht noch ein Klischee), alles zu betonieren und Rollschuh fahren, einen Swimmingpool einsetzen, Sonnensegel setzen und sich treiben lassen …). Natürlich. Die Kleingärtnerei! Also nimmt man diesen Garten im nächsten Jahr einfach in Beschlag. Jedenfalls ich mache das. Denn, was gibt es denn Besseres, als sich über 39 gesparte Cent zu freuen, weil die Radieschen im eigen Garten wachsen und man nicht die wässrigen Dinger aus dem Supermarkt nehmen muss? Wenn man mich das jetzt so isoliert fragen würde, fiele mir da schon was ein. Gesparte Hundert Euro die für Erde, Samen, Töpfe, Balkonkästen und Gießkanne drauf gehen zum Beispiel. Nicht jeden Tag literweise Wasser vom Dachgeschoss in den garten Schleppen zum Beispiel. Keine schwarzen Fingernägel zum Beispiel. (Gut, letztes Beispiel wäre noch vertretbar, wenn es sich um schwarzen Nagellack von Maybelline handelte, tut es aber nicht.) Kein Unkraut jäten zum Beispiel. Und vor allem keine gut gemeinten Tipps von den Nachbarn ernten, die auf einmal aus allen Löchern gekrochen kommen. Aber dennoch: Wie jeder gute Deutsche verbringe ich zurzeit zwei von drei Wochenenden im Baumarkt und informiere mich gewissenhaft (auch ganz deutsch) über Rindenmulch, biologische Düngung und Fassvermögen von Tontöpfen. Lasse mir in aller Ruhe erklären, warum meine Erdbeeren noch Befruchterpflanzen benötigen und wie man den Rasen am besten vertikutiert. Was Schnellkeimer sind und warum meine Möhren unbedingt Zwiebeln als Nachbarn haben wollen. Das wird sich alles auszahlen, wenn man in zwei Monaten die eigenen dicken Karotten aus dem Boden zieht. Und zeitgleich auch Spinat, Zwiebeln, Radieschen und Zucchini erntereif sind und man gar nicht mehr weiß, wohin mit dem ganzen Zeug. Jaha, das wird ein Fest. Da wird sich das ganze Umgraben, Hacken, Rächen und Harken, das Pikieren, Ausgeizen und Wässern gelohnt haben. Da braucht mein 16 Jähriges Ich, dass seine Zeit lieber mit schwimmen, Eis essen, Kino und sonstigen Rumgammeln verbringt gar nicht die Augen verleiern. Und erst recht nicht, wenn ich dem jetzt noch erzähle, dass ich außerdem Funktionskleidung habe, damit ich auch bei Regen das Unkraut aus den schön gesetzten Umrandungsritzen meiner Beete kratzen kann.

Der Titel ist gemopst bei Bernhard Schlink

19 April 2012

deep dream

15 April 2012

In der Schwebe


„Das können kleine Kinder, das kann ich auch. Das können kleine Kinder, das kann ich auch! DAS KÖNNEN KLEINE KINDER, DAS KANN ICH AUCH!“ So spreche im mir seit zehn Minuten selber Mut zu und hoffe, dass es durch die ständige Wiederholung auch irgendwann wahr wird. Das mit dem auch können. Statt mich von der Stelle zu bewegen, sitze ich aber seit eben jenen zehn Minuten in einem Turmfenster fest. Dem einzigen Turmfenster, das tief genug ist, um mich, meinen Rucksack und mein Stativ aufzunehmen. Dem einzigen Turmfenster überhaupt, das sich in 38 Metern einer sich in die Höhe kringelnden Tortendeckchenwendeltreppe zeigt. Tortendeckchenwendeltreppe, so tauf ich sie. Denn so sieht sie aus. Wie ein dünnes Blatt Papier, mit wahnsinnig vielen eingestanzten Blumenmustern. Nur das irgendjemand in der Mitte ein Loch reingeschnitten und den Rest ein bisschen in sich gedreht hat. Und ehrlich- schön sieht das aus. Von unten. Da denkt man noch „Wohow, das ist Kunst!“ und freut sich über die schicken Schnörkel, das einfallende Licht und die Schraubenatmosphäre. Als ob man ganz tief drinnen wär, im Heim der Schnecke und nur schnell hochflitzen müsste, um die Fühler ausstrecken zu können. Also flitze ich los und achte nicht auf die bleichen Gesichter, die mir entgegentorkeln. Ich flitze zehn Stufen. Dann werde ich langsamer und laufe die nächsten zehn. Dann geh ich und letztlich krieche ich nur noch und setze zitternd einen Fuß vor den anderen. So weiche Knie hatte ich noch nie. Denn jetzt kommt die Erkenntnis. Das sind Löcher in den Stufen. Durch die kann man durchgucken. In die Tiefe. Und das geht’s runter. Und das Geländer ist auch nur so ein zartes Pflänzchen, das könnte mich nicht halten. Und in der Wand ist nichts, nicht mal ein paar alte Zementbröckel an denen ich mich festhalten könnte. Nur glatte schöne weiße Wand. Und dann merke ich, dass die eine oder andere Stufe ersetzt wurde. Durch glatte Eisenplatten ohne Löcher. Und ich frage mich: Wie hat man wohl rausgefunden, dass diese Platten nicht mehr sicher sind? Und dann sehe ich es: das Turmfenster. Und verschwinde darin. Und rede stoisch auf mich ein. Und beobachte Menschen. Und sehe erst jetzt, dass neun von zehn mit dem gleichen Enthusiasmus wie ich die Treppe hochstürzen, aber bereits nach vier Metern merken: „Nee, das würd nüscht!“ Die sind klüger als ich. Die fangen den Scheiß gar nicht erst an. Was eine ziemliche Einsamkeit für mich zur Folge hat. Es kommt eine ganze Weile niemand vorbei, der mich mitnehmen könnte. Denn irgendwie will ich jetzt erst recht nach oben, hab aber noch keine Ahnung wie. Wenn ich auf allen Vieren gehe, bin ich nur noch näher an den Löchern dran. Hüpfen geht nicht, da meine Beine weich wie Butte und schwer wie Blei zeitgleich sind. Und ich muss irgendwie drauf achten, dass ich meine Hände nicht brauche, denn die sind mittlerweile so nass, dass sie vom Geländer rutschen. „Sie müssen immer nach oben schauen und starr gerade aus gehen, dann klappt es. Und denken Sie an die Aussicht, die lohnt sich.“ höre ich da von einer Frau, die plötzlich vor mir steht. „Ähm wie bitte, was sagen Sie?“ „Sie müssen einfach irgendwo oben einen Punkt fixieren, dann schaffen Sie es auch nach oben.“ „Noch mal Entschuldigung, aber was?“ „Na Sie reden die ganze Zeit so vor sich hin, da wollte ich Ihnen einen Tipp geben, wie es klappt. Mir jedenfalls hat es geholfen!“Ach herrje, rede ich so laut? Muss ich wohl, denn kurz danach kommt eine Frau beim Runterlaufen an mir vorbei und meint lachend zu mir: „Und ich dachte schon es liegt am Alter, dass ich so eine Angst hatte. Beruhigend zu sehen, dass es Ihnen auch so geht!“Okay, ich muss hier weg. Jetzt. Hoch. Das kann ich nicht auf mir sitzen lassen. Den Rat befolgend hefte ich meinen Blick auf ein kleines Eisenkreuz in der Wand und komme langsam aber immerhin irgendwann oben an. Mein Rucksack fühlt sich 50 Kilo schwerer an und ich müsste dringend duschen, nachdem ich die letzet Stufe hinter mich gebracht habe. Aber ich bin stolz auf mich. Genauso wie die drei anderen Erwachsenen mit den sieben Kindern, die hier oben stehen und nach einem kurzen Blick auf die Aussicht nur noch wieder runter wollen.

Der Titel ist gemopst bei Tess Gerritsen