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18 März 2009

Am Ufer des Rio Piedra saß ich und weinte

Wenn einen die Sprachlosigkeit einholt, kann das viele Gründe haben. Zum Beispiel das eine Tür wieder geöffnet wird, die schon lange zwar nicht als verschlossen zumindest aber als geschlossen galt. Das das, was durch das Schlüsselloch als klein und weit weg wahrgenommen wird nun wieder mit voller Wucht auf einen prallt. Begleitet von der gleichen Pietätlosigkeit, den gleichen falschen Fragen an die gleichen falschen Experten, den gleichen Opfern, den gleichen Tätern. Geändert hat sich nichts, außer dass es jetzt einen Eintrag bei Wikipedia gibt, der zur traurigen Berühmtheit unserer Stadt beiträgt und das manche von uns aufgrund eines Wohnortwechsels, andere aufgrund der Berufswahl erneut in unmittelbarer Nähe sind.
Es kann sein, dass einen die Realität ereilt, von hinten auf die Schulter klopft und zeigt, wie leicht man der Welt seinen Glanz nehmen kann, indem sie einen ent- täuscht mit einer leinwandfähigen Präsentation über die Verwechselung von Interesse mit Heuchelei, von Duldsamkeit mit Eigennutz, von Endlichkeit und Zerstörung. Wenn sie aufweist, dass Missgunst schlimmer noch ist als Neid, Egoismus schlimmer als Hochmut, Herzlosigkeit schlimmer als Zorn.
Es kann sein, dass man stacheldrahtseiltanzend zu Wanken beginnt, weil man unerwartet hängen bleibt und unglaubwürdig seine zitternden Füße anstarrt, die einen den weiteren Weg nicht mehr tragen wollen. Die aufgeben und den Dienst versagen.
Es kann aber auch sein, dass dann jemand kommt, behutsam die Füße verbindet und einen für ein Stück des Pfades auf den Schultern trägt. Dass jemand einem zwar die Scheuklappen abnimmt, dafür aber seinen Farbkasten mitbringt, um neue Möglichkeiten zu zeichnen. Dass jemand den Schlüsselbund an die Wand hängt, um für eine Weile bei einer Tasse Tee zu bleiben und so lang pustet, bis dieser nicht mehr ganz so heiß ist. Dass jemand kurz vor Ladenschluss eine Auflaufform besorgt, um mit einem ein mittelmäßiges Essen zu kochen und einen Film zu schauen, der seine Schauspieler nicht wert ist. Dass jemand der Stille den Vorrang einräumt, wenn ein Sturm tobt. Die Wogen glättet. Die Stirnfalten wegstreicht. Und lächelt.

Titel: Am Ufer des Rio Piedra saß ich und weinte
Autor: Paulo Coelho
Verlag: diogenes
Preis: € 8,90

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