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14 April 2011

Die Alchimistin


Wenn jemand zu mir sagt, ich sei ein exotischer Fall, was könnte er damit meinen? Schön wäre es, wenn er mir sagen will, dass ich eine Figur wie eine brasilianische Schönheit habe. Akzeptabel wäre es auch noch, wenn er mir sagen will, dass ich ein Temperament wie eine rassige Italienerin habe. Nicht mehr hinnehmbar ist es aber, wenn er damit meint, dass es kaum einen Menschen außer mir gibt, der in so kurzer Zeit so arg an Muskeln abbaut. Als hätte ich vorher schon keine gehabt. Das geht wirklich nicht. Das kann er mir nicht ins Gesicht sagen. Nicht wo ich so stolz auf Radtouren von siebzig Kilometern bin, bei denen ich ohne Muskelkater davon gekommen bin. Nein, auf keinen Fall. Das geht nicht. Freundchen, du wirst mir unsympathisch! Aber das hätte mir gleich klar werden müssen, dass das mit uns nichts werden kann. Schon am Eingang das Schild: Bitte Schuhe ausziehen, wir laufen hier barfuß! Hätte es mir sagen sollen. Wo mir sonst meine Voreingenommenheit hilft, hier hat sie mich im Stich gelassen. Weshalb ich meine Schuhe brav auszog und über einen Teppich zur Empfangsdame gelaufen bin, über den heut sicher schon fünfzig andere Füße voller Schweiß und Pilz gelaufen sind. Die vierzig Duftkerzen die zu beiden Seiten auf dem Boden liegen konnten darüber auch nicht hinwegtäuschen. „Meine Güte ist das ein esoterischer Schuppen hier!“, das war das Einzige, was ich gedacht habe. Ein Zimtgeruch in der Nase und ein Trommelgeräusch, was hier als Dauerbeschallung Musik darstellen soll, im Ohr landete ich bei der Empfangsdame und erklärte das ich einen Termin habe. Mit russischem Akzent verwies sie mich ins Behandlungszimmer. Klasse, Russinnen! Da stell ich mir doch Folgendes vor: eine rundweg emotionslose und leicht übergewichtige Frau, die knallhart ihre Finger in meine Beine gräbt und alles wieder zurechtbiegt. War aber nich so. Vielmehr landete ich in einem Raum voller Bilder vom Kosmos. Und als ob das nicht schon schlimm genug wäre, nein die Bilder vom Kosmos sind keine irre coolen Fotografien die einen irgendwie beruhigen, sondern selbst gemalte Ölbilder die einen irgendwie irritieren. Sie sind mit den Fingern gemalt! Völlig wirre Kreise auf blauem Grund mit gelben Streifen und roten Punkten. Außen rum viele Punkte. Und ganz fett in Schwarz: KOSMOS. Ach herrje. Wenn sie schon mit ihren Fingern nicht malen könne, wie sollen sie mein Bein wieder auf die Reihe bekommen?
Lange Rede, kurzer Sinn: Hier bleib ich nicht. Ich hau ab. Ich will was, wo ich ohne Gnade gestriezt werde und wo man mir nicht mit Samthandschuhen wieder auf die Beine hilft. Und das bekomm ich beim zweiten Versuch auch. Zwar lacht man sich auf dort über meinen verkümmerten Muskel schlapp, ebenso wie über die Geschichte, dass ich so dusselig war mir diese doch so seltene Verletzung zum zweiten Mal zuzuziehen. Aber das spornt an und zwanzig Prozent der möglichen Bewegung ist wieder da. Nur die Kniescheibe, die tanzt noch gehässig im Viervierteltakt.

Der Titel is geborgt bei Kai Meyer

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