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06 April 2011

Die Beschneidung

03:14 Uhr.
Es wird nur eine Vollnarkose. Das hattest du doch schon alles einmal. Vor fünfzehn Jahren. Genau das gleiche Theater, nur an der anderen Seite. Du bekommst also nichts mit. Immerhin hast du dir nicht diese Rückenmarksbetäubung einreden lassen. Das wäre ja herrlich geworden. Vom Bauchnabel abwärts kein Gefühl, mit dem Kopf aber voll da und den Damen und Herren zu schauen, wie sie einem das Knie zerlegen. Auf die Geräusche und Gerüche wollt ich doch gern verzichten. Und dann die Angst, dass die Beine nicht wieder wach werden. „Das ist mir in meinen zwanzig Jahren, die ich hier arbeite, noch nicht passiert, aber wenn sie meinen, dass das eine Gefahr ist…“ hat sie schnippisch gesagt. Nur schnippisch, nicht überzeugend. Nein, dann das Gehirn lieber völlig ausschalten. Lieber ganz nicht mehr da sein, als nur so halb. Obwohl mir dabei ganz sicher auch nicht ist. Es könnte ja sein, dass ich heute nicht gleich aufwache, sondern erst in zehn oder zwanzig Jahren. Und dann werd ich munter und meine Eltern sitzen schon ergraut neben mir am Bett und halten meine Hand. Und mein Freund ist nicht mehr mein Freund, sondern mittlerweile Vater zweier Kinder. Und was, wenn ich aufwache und so reagier wie beim letzten Mal? Als ich hysterisch geworden bin, wild mit den Armen gerudert hab, mir dabei die Infusionsnadel in den Arm gerammt habe und alle Ärzte als nichtsnutzige Fachidioten beschimpft habe? Damals war ich neun Jahre alt und das wurde als witzige Anekdote abgewunken. Wär das heut noch so? Oder soll ich gleich sagen, dass ich darum bitte, dass mir die Arme festgeschnallt werden?

05:22 Uhr.
So reicht jetzt mit trüben Gedanken. Aufstehen ist angesagt. Pünktlichkeit wurde mir wärmstens ans Herz gelegt. Und so bin ich die erste Patientin, die heut ankommt. Aber nicht mehr die Erste, die drankommt. Ein Unfall ist dazwischen gekommen, der hat Vorrang.

06:27 Uhr.
Ich bekomme mein OP-Hemd, meinen OP-Strumpf und hey, einen besonders hübschen OP-Slip. Und der Blutdruck wird gemessen. Das erste von gefühlten zweihundert malen. Neunzig zu sechzig. Ich sei eher unaufgeregt. Wenn die wüsste. Ich bitte dennoch um die mir versprochenen Beruhigungstabletten.

07:15 Uhr
Jetzt bin ich beruhigt. Die Sonne ist aufgegangen und meine Zimmernachbarin, eine einundsiebzigjährige Dame mit Speichenbruch ist angekommen. Kurzes Geplänkel. Sie schläft und ich lese ein Buch.

09.44 Uhr
Sie kommen. Sie kommen mich holen. Hui. Müssen wir durch viele Türen fahren. Stoßen wir an vielen Ecken an. Raus, rechts, geradeaus, links, Vorsicht Tür, stoppen, geradeaus, rechts, links, Tür, geradeaus, links, warten auf den Fahrstuhl, rein in den Fahrstuhl, Fahrstuhlmusik, raus aus dem Fahrstuhl, geradeaus, nach links und stoppen. Wechseln der Liege. OP-Mützchen auf. Was ist das? Ach ne Nadel. Die wird in den Arm gerammt. Hihi. Und was ist das? Ultraschall? Und was sucht der? Und ist der schnell genug? Ja hallo, ein Nerv. Ein Beinnerv. Ein ganz besonders schöner wird mir gesagt. Ich seh zwar nur viele weiße und schwarze Punkte, aber glaub euch gern. Und was ist das. Betäubungsmittel. Aha. Die machen dösig im Kopf? Aha. Und wofür brauch ich das? Strom. Aha. Im Bein. Ist ja lustig. Schau mal, meine Kniescheibe tanzt. Boogie-Woogie. Was? Noch eine Betäubungsspritze. Ich soll runterkommen? Uiiii ….die ist aber anders als die Erste. Doller. Das dröhnt. Naa okkayyyyy…..und nu? Sauerstoff? Wieso das? Zählen. Okaayyyy….eins. Zwei. Ähm, dann die Drei und die Vier und die Fünf. Und dann kommt die Sechs. Und jetzt? Wohin fahren wir? In den Operationss..

13.02 Uhr.
Licht. Wo bin ich? Nein, warte. Als Erstes, du hast ne Nadel im Arm, also halt den Arm ruhig. Als Zweites: Wie spät ist es? In welchem Jahr? Oh, okay dann is

13.14 Uhr.
Ja ich bin wach. Natürlich. Schiebt mich auf mein Zimmer. Muss ich dafür wach sein. Darf ich nur ganz kurz die Augen zu machen.

14: 11 Uhr.
Ich bin wach. Wirklich jetzt. Und ich hab Hunger. Echt. Großen Hunger. Ich wurde gewarnt, nicht gleich was zu essen oder zu trinken nach der Narkose. Mir würde schlecht werden. Scheiß drauf. Ich hab Hunger. Macht mir mein Mittag warm. Her damit. Was gibt’s denn? Ahhh….Chili con Carne. Auf einen nüchternen Vegetariermagen. In der Fastenzeit. Im katholischen Krankenhaus. Okayy. Und dazu? Reis, Weißkrautsalat und Ananas. Ach was solls, dann eben das. Und die Bohnen aus dem Chili pul ich raus. Und davon, dass sich meine Zimmernachbarin, allein bei dem Geruch lautstark erbricht, lass ich mich nicht stören. Mir schmeckts. Auch noch, als der Arzt reinkommt und sich freut, dass ich einen ordentlichen Schaden hab. Größer sogar als gedacht. Wer hätte das gedacht. Immerhin, nur vier bis sechs Wochen Training und es könnte wieder einigermaßen okay sein. Nie mehr so wie früher, aber immerhin einigermaßen okay. Ist doch alles halb so wild. Zum Nachtisch noch eine Dosis Schmerzmittel im Arm und alles wird gut.

17:04 Uhr.
Ich müsst jetzt echt mal pinkeln. Erstmal die Decke hoch heben. Was kommt denn da aus meinem Knie. Ein Schlauch. Zehn, zwanzig, dreißig, vierzig, fünfzig, sechzig, ganze siebzig Zentimeter lang. Dran hängt ne kleine Plastebombe. Die is voller Blut. Urghs. Schon beim Hinsehen bekomm ich wieder Schmerzen.

18:00 Uhr.
Abendbrot. Wurstbrot.

20.40 Uhr.
Die Zimmernachbarin macht das Licht aus. Ich lieg am Fenster. Gegenüber ist eine Plattensiedlung. Sechsundsechzig Fenster kann ich beobachten. Und wach liegen.

00:24 Uhr.
Ich kanns nicht mehr halten. Ich muss pinkeln. Gut. Wo ist der Blutsack. Am Bett festgezurrt. Wieso denn das? Wie soll ich da aufstehen. Denken die nicht mit. Die denken nicht mit. Meine Güte ist das fest. Muss ich dran zurren, damit ich aufstehen kann. Scheiß, jetzt ist mir der Kram auch noch runtergefallen. Man. Man man man!

03: 55 Uhr.
Endgültig wach.

04:22 Uhr.
Ich brauch die Nachtschwester. Und schon wieder Schmerzmittel.

06:00 Uhr.
Weckzeit. Die Schwester freut sich über die Blutlache neben meinem Bett. Ja ich bin ein Matz. Schmeißt mich raus. Ich will nach Hause. Bitte.

06:30 Uhr.
Frühstück.

09:00 Uhr.
Drainage entfernen. Die gute Frau hat Probleme damit. Ist auch heftig verschnürt. Da muss man leider etwas heftiger dran ziehen.

09: 11 bis 09:15 Uhr.
Physiotherapie.

09:30 Uhr.
Abmeldung. Und die Info, dass ich zweimal gegessen hab (offiziell zu Abend und das Frühstück) und daher zwei Tage Krankenhausaufenthalt abgerechnet werden. Sehr schön. So isses gewesen.

Titel is geborgt bei Bernhard Schlink

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