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26 Februar 2010

Geschlossene Gesellschaft


So gut müsste es einem gehen, dass man mitten in der Woche zwei Stunden spazieren gehen kann. Mit dem Rücksack auf dem Rücken dem Nebel in den Straßen entgegen. Zwar fängt man teilweise missmutige Blicke und wird neidisch angeschaut, ob des Verdachtes auch nur eine der vielen Arbeitslosen zu sein, die sich an der spätrömischen Dekadenz des Staates bereichern. Dabei hab ich meine Wanderung nur dem gewissen Maß an Unorganisiertheit zu verdanken, was jeder irgendwie in sich trägt, aber offiziell keiner haben darf. Und so muss ich mitten in der Nacht raus. Wobei ich im Grunde nichts gegen ein verfrühtes Aufstehen habe. Dann nicht, wenn ich in freudiger Erwartung ob einer Woche gemeinsam mit Freunden bin, oder eines Sonnenaufganges hoch oben auf den Bergen. Für solche Momente nehme ich es in Kauf, dass die Augenringe auf Kinnhöhe hängen und meine Laune so schlecht ist, dass ich mich zu kleinen weißen Klümpchen zusammenrotten müsste, würde man mich in den bitternötigen Kaffee gießen. In dem Fall weiß man, wofür man sich ertragen lässt. Was aber nicht der Fall ist, wenn ich mich selbst von drei verschiedenen Weckern aus dem Bett jagen muss, um einen Termin wahrzunehmen, der so wichtig ist, dass man zum einen die erste Hälfte der Nacht nicht schlafen kann und zum anderen die zweite Hälfte jedes Wort was sitzen muss immer wieder vor sich hinträumt. So wichtig, dass einem die Chefin was aus ihrem Kleiderschrank mitgibt, damit man einen guten Eindruck macht. So wichtig, dass man mit dem Gedanken spielt, heut mal mit einem Lappen über die mittlerweile vom Salz zerfressenen Schuhe zu gehen. Zugegeben hab ich Letzteres dann doch nicht gemacht. Die Zeitnot hat in der Abwägung zum Nutzen, mal wieder, gesiegt. Was ex post betrachtet auch besser war. Denn der Fußmarsch von einer halben Stunde bergauf war umsonst, weil schon seit Tagen feststeht, dass der wichtige Termin ausfällt. Prima. Dann hat man eine unerwartete lange Mittagspause von sechs Stunden, die man nur ungern in der Kantine verbringen möchte, die sowieso jeden Tag so riecht, als würde es Gulasch mit Mischgemüse geben. Und zwar dem Mischgemüse, bei dem die Möhren so unnatürlich geriffelt geschnitten sind. Also watschel ich wieder nach Hause und reg mich über die verplemperte Zeit auf, womit ich noch mehr Zeit verplemper. Und ich weiß, dass am Ende keine andere Möglichkeit bleibt, als wieder hinzulaufen. Nur um Personen gegenüberzusitzen, die sich mit Rasierklingen den Magen vollhauen, um einem zu beweisen, dass ein Leben ohne Drogen unmöglich ist. Um neben Personen zu sitzen, die sich ein Loch in den Bauch freuen, weil sie jetzt auch mal was zu sagen haben. Was mag in der Vergangenheit derer schief gelaufen sein, fragt man sich dann in beiden Fällen. Kein Unterschied vor und neben mir. Dieselben Symptome. Beide bekommen feucht glasige Augen, wenn sie von ihrem Hochgefühl erzählen. Beide Herzen hüpfen im Viervierteltakt. Man wartet drauf, dass sie sich an den Händen fassen, um gemeinsam zu schlagen. Dabei geht es in verschiedene Richtungen. Bergauf und bergab. Und ich. Ich häng irgendwie dazwischen und schau orientierungslos auf meine ungeputzten Schuhe, während man mir zu verstehen gibt, dass hier eigentlich nur Alphamännchen gebraucht werden, die ihr Selbstbewusstsein einem Stück schwarzen Stoff verdanken.

Titel: Geschlossene Gesellschaft
Autor: Jean Paul Sartre
Verlag: rororo
Preis: € 4,95


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