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27 April 2010

Unscharfe Bilder


Wenn ich früher auf dem Schulhof gefragt wurde: „Wenn du auf einen deiner Sinne verzichten müsstest, welcher wäre dir dann am wenigsten wert?“ wusste ich sofort, dass ich vermutlich auf alle verzichten könnte, solange ich mein Augenlicht behalten darf. Da sowohl mein Frühstück, als auch mein Mittag und mein Abendessen aus einer Scheibe Trockenbrot bestanden, war für mich klar, dass Geschmack purer Luxus und damit sofort verzichtbar ist. Infolge meiner noch unerkannten Laktoseintoleranz hatte ich nichts anderes vertragen. Versuchte ich es dennoch, war ich erstmal zwei Tage außer Funktion gesetzt. Die volle Ladung Laktose im Blut beim Arzt und damit die Erkenntnis einer der 20 Prozent zu sein, hat mich auch nicht weiter gebracht. Nicht mal bis zum nächsten Klo. Super. Also habe ich eine Trendkrankheit. Und dann nicht mal die Erste. Denn genau wie diejenigen, die im Frühling ihre Sportfunktionskleidung aus dem Schrank holen, um ihre Silvesterschwüre einzuhalten (für zwei Wochen), hab ich ein kaputtes Knie. Welches mir schon vermehrt Operationen und schicke Schwarzweißinnenansichten beschert hat, darüber hinaus aber auch immer wieder herablassende Blicke, weil ich mich nicht überwinde und die Postkartenaussicht einer Rollstuhlzukunft über die Schultern werfe und joggen gehe. Dafür nur auf meinen Hometrainer, der noch uncooler ist, als überhaupt keinen Sport zu machen. Dennoch nehme ich mir das Recht heraus, mich besser zu fühlen. Immerhin sitze ich zwei Wochen später nicht kapitulierend auf der Couch und schiebe mein belastetes und deshalb zerstörtes Gelenk vor. Und stopfe dabei Schokolade in mich hinein. Was ich ja, wie gesagt, gar nicht könnte. Das heißt, könnte schon. Solange mir die Konsequenzen egal wären. Sind sie nicht. Also bleibe ich beim Trockenbrot. Der Geschmack wieder, um beim Thema zu bleiben, ist aber nicht so überragend, dass er beibehalten bleiben müsste. Ein trüber Sinn kann man also sagen. Finde ich.
Darüber hinaus könnt ich mich auch damit anfreunden, meinen restlichen Geschmack gleich mitzugeben und so auf meine olfaktorische Wahrnehmung zu verzichten. Klar, Sommerregen zu riechen, der auf heißen Teer tröpfelt, ist schon was Feines. Aber eigentlich nur dazu nütze, um das dabei wiederbelebte Gefühl des Kindseins in sentimentale Texte zu schütten. Dabei hatte der Geruch ja auch mal einen Sinn. Also einen Richtigen. Ist das giftig? Kann ich das essen? Wie Schimmel aussieht, weiß ich aber mittlerweile. Und bis dreißig zählen und ein Mindesthaltbarkeitsdatum lesen, das bekomm ich auch noch hin.
Zeitweise für unnütz halte ich auch das Gehör. Das soll nicht für Momente in halb vollen Konzerthallen gelten, die man noch monatelang mit sich rumträgt und die einen in eine andere Zeit versetzen. Auch nicht dem Klopfen deines Herzens. Wohl aber für Momente, in denen man sich wünscht, statt der Augen die Ohren schließen zu können. Um die Mundbewegungen fiktiv und gleich einer Weihnachtsgans nur mit dem zu füllen, was einem schmeckt. Dann würde man die gute Frau einfach ignorieren, die einem mit ihren Dritten das Ohr abkaut. Wie gut das Ohren nicht so hart sind, da geht das schneller. Aber konfus macht mich das. Denn weil ich auf der Straße lieber nicht die Geräusche der Alltagswelt höre, stecken Stöpsel (also ich meine jetzt keine Kinder) in meinem Kopf. Dass ich dann gerade deretwegen angesprochen und auf die Gefahr der Ertaubung hingewiesen werde, passt mir nicht. Blöder Sinn!
Was ich noch einsehe, ist, dass der Tastsinn wichtig ist. Um sich nicht irgendwann beim Abwaschen ein Messer in die Pulsschlagader zu jagen. Aus Versehen. Aber ich glaube, der den ich habe, der funktioniert eh nicht ganz. Wenn ich morgens handtellergroße lila Flecken am Knie oder auf der Arbeit plötzlich erbsengroße Brandblasen an der Hand entdecke, ohne zu wissen, wo die herkommen, ist der Sinn doch irgendwie schon verloren gegangen.
Heut denke ich teilweise aber schon, dass es auch von Vorteil sein kann, nichts zu sehen. Nicht immer. Lediglich dann, wenn man nicht mehr will, als zu denken. Ich vermute, das ist einfacher und klarer, wenn das Bewusstsein nicht schon verpestet ist durch das unentwegte Rauschen der Bilder. Keine Ablenkung. Frei. Pure Gedanken. Ich würde dann wahrscheinlich keine wirren Texte schreiben, sondern statisch Perfekte. Mit einem Fluss von Nord nach Süd. Immer der Nase lang, bis zum Ziel. Der absoluten Gewissheit des elitären Formulierens sicher.
Dennoch, Augen bleiben unverzichtbar. Ich brauche meine Bilder. Und meine Kamera. Vor allem meine Kamera. Um Kopien von meinen Bildern zu machen. Ich denke, dass das sinnvoll ist. Gut. Ich kann dann besser atmen. Und ich wüsst sonst auch nicht, wohin mit dem ganzen Kram. Im Kopf is nich ewig Platz. Ich musste aber feststellen, das für einen objektiven Betrachter meine Bilder nicht so nach Glück und Regenbogen aussehen zu scheinen. Denn neben den Themen Krieg, Religion und Freitod tritt nun auch der Kindesmissbrauch, unter denen mein Name prangt. Man muss denken, ich sei ein zutiefst deprimierter Mensch. Im Endeffekt soll es mir aber egal sein. Wichtig ist für mich allein, dass sich meine Kamera bei mir nicht langweilt und sich beim Vorbeigehen wünscht, in den Händen einer anderen zu liegen. Dass sie sich nicht unterfordert fühlt und mich anschreit, dass die Kreativprogramme in ihrem Haupt nicht dazu da sind, die Eigene zu ersetzen. Klingt arrogant. Ist aber so. Alles für das Bild.

Titel: Unscharfe Bilder
Autorin: Ulla Hahn
Verlag: dtb
Preis: € 8,90

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