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18 Januar 2010

Das Gefängnis der Freiheit


Da treibt es nun mitten auf dem großen eisigen Meer. Es ist kalt, aber die Sonne lacht ihm dennoch ins Gesicht. Es hat sich losgebunden. In einem unbeobachteten Augenblick. Als keiner hingeschaut hat, hat es ganz leise das Tau vom Steg gelöst, damit es sich vom Wasser davon treiben lassen kann. Es wollte nicht wieder vergessen werde, um im Winter festzufrieren und in der Kälte ausharren zu müssen, bis die ersten Tulpen blühen. So schwamm es vorbei an Feldern voller Kornblumen, Wiesen, auf denen Kühe grasten, Städten. Alten Städten, modernen Städten. Viele Dinge hatte es schon gesehen. Jetzt ist Zeit für Neue. Aber nun, wo es schon seit Wochen allein unterwegs ist, hört es ab und an ein leises Pfeifen. Eigentlich war es dem kleinen Boot schon eine Weile klar. Irgendetwas konnte nicht stimmen. Leicht krank hat es sich zeitweise gefühlt. Immer schwerer sind die tobenden Kinder geworden. Immer länger hat es für den Weg über den See gebraucht. Immer matter und dünner ist es geworden. Und nun wird es schlimmer. Da muss ein Loch sein. Ganz winzig nur. So klein etwa, dass am Tag ein Atemzug entfleucht. Wenig für einen Tag, aber genug um auf Dauer die Lebenskraft zu entsaugen. So kommt Panik bei dem kleinen Boot auf. Es fürchtet sich ganz fürchterlich. Es will noch nicht sterben. Es strengt sich an durchzuhalten. So sehr, dass es ganz rot wird und zu schwitzen anfängt. Aber wie das ist, wenn man sich besonders viel Mühe gibt und wild fuchtelnd mit den Armen um sich schlägt: Es kostet nur noch mehr Kraft. Wie viel Zeit noch bleibt, bis es an einem Ufer ankommt und gefunden wird, von jemandem, der es flickt, weiß es nicht. Wär es doch nur da geblieben, hoffend, dass es jemandem auffällt, dass etwas nicht in Ordnung ist.
„Doch“, sagen die Fische, die schon eine Weile unter seinem Schatten geschwommen sind „so wäre das nicht gekommen. Sieh uns doch an. Sind wir nicht schnell genug, werden wir gefangen in Netzen und landen in Aquarien oder auf Tellern. Du bist wie wir. Austauschbar bei Verlust oder Fehlfunktion.“
„Aber es geht euch doch gut in den Aquarien. Sie geben Euch ein zu Hause und essen!“
„Was ist das im Gegensatz zu Freiheit hier draußen?“
„Es stimmt, du kannst ihnen glauben“, krächzte der Kranich, der sich zu einer Pause auf seinem Kopf gesetzt hatte „ich war schon überall. Im Norden und Süden. Osten und Westen. Es ist überall gleich. Sie sperren einen ein und gehen dann mit einem um, wie ihnen gerade der Sinn steht. Deine Gefühle sind egal. Ich denke, sie wissen nicht einmal, dass du welche hast.“
Und schon war er wieder auf dem Flug davon. Auch die Fische waren mittlerweile weitergeschwommen. Irgendwo nach dort unten, zu den Muschelbänken oder dem Seetang. Da nun die Fische und der Kranich schon so viel gesehen haben und die Welt besser kannten als es, wusste es, dass sie recht haben. Auf fremde Hilfe konnte es nicht hoffen. Wenn es, halb kaputt am Ufer stranden würde, wird es niemand aufheben. Man wird es liegen lassen. Bis sich die Kälte durch ihn gefressen hat, es spröde wird und sich in Einzelteile auflöst. Die ein oder andere Schnecke würde vielleicht noch kommen, um sich unter den übrig gebliebenen Fetzen ein Versteck zu suchen. Es wechselt die Richtung. Nicht mehr auf das Ufer, sondern direkt auf das Meer hinaus.

Alternativ, je nach Stimmung, Ende 2:
Da nun die Fische und der Kranich schon so viel gesehen haben und die Welt besser kannten als es, wusste es, dass sie recht haben. Auf fremde Hilfe konnte es nicht hoffen. Nicht auf Menschliche. Es musste sich selber helfen und zuerst die Stelle finden, aus der die Luft entweicht. Im spiegelnden Wasser war die Stelle nach mehrfachen drehen und wenden zu entdecken. Und es war wirklich nur eine ganz kleine Stelle. Auf seiner Brust. Eines der Kinder muss mit einem Stock reingepult haben. Was nun? Als hätte er es gehört, kam der Wind herbeigeeilt. Er pustete kräftig neue Luft in es hinein. Und er hatte ein Geschenk mitgebracht. Ein Blatt von der alten Eiche am Steg. Das legte er ihm auf den Brustkorb, damit nichts erneut aufbrechen konnte. Gemeinsam zogen sie dann aufs Meer hinaus, den Sonnenauf-und untergängen entgegen.

Ja ja, heute hatte ich meinen Kitschigen.

Titel: Das Gefängnis der Freiheit
Autor: Michael Ende
Verlag: PIPER
Preis: € 9,00

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