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05 Januar 2010

Totentanz

Vom Balkonfenster aus sehe ich, dass der Schnee der seit Tagen vom Himmel fällt, auch liegen bleibt. Ich hoffe, dass die zarten Flocken sich bei dem Sturz nichts gebrochen haben und nun noch ein paar Kinderhände erfreuen. Alles sieht so schön weiß aus. Abgesehen von den Hundehaufen, die der Nachbarshund beim täglichen Gassi gehen hinterlässt und von den mittlerweile zertretenen Silvesterböllerresten, die nun auch aussehen wie flach getretene Hundehaufen. Alle sind draußen. Fahren Schlitten. Kämpfen Schneeballschlachten. Bauen einen Schneemann. Mit Karottennäschen und Haselnusszweighaar. Nur ich darf drinnen bleiben und mich bemitleiden. Ich bin krank. Sonst bemitleide ich mich gern. Aber bei so einem Wetter. Nö. Dummerweise schaff ich das immer. Krank über die Feiertage. Oder im Urlaub. Immer. Da ich nichts besonderes an Fremdsprachen oder Auslandsaufenthalten zu bieten habe, werde ich wohl das in meinen Lebenslauf aufnehmen. Mein Körper ist urlaubsunfähig. Sobald er von Arbeit und Stress entfernt wird, öffnet er alle Poren zur Virenaufnahme. Infolgedessen nehm ich kaum Urlaub, nur wenn dringend nötig, und steh jetzt, am Ende. Und vor einem Resturlaub, von dem ich nicht weiß wohin damit. Jammern auf hohem Niveau. Ich weiß. Da sitz ich jetzt auf meiner Couch. Nur in Gesellschaft vom Fieberthermometer und einer Megapackung Aspirin. Was aber immer noch besser ist, als der obligatorische Besuch beim Hausarzt nebenan. Wo man sich in einen stickigen Raum zwischen zwanzig andere Menschen quetschen muss. Und fürchten, dass man deren Keime auch in sich aufnimmt. Ich fürchte mich dabei nicht vor den alten Menschen, sondern vor den jungen. Denn während die Jungen nur kommen, wenn keine andere Wahl mehr besteht, kommen die Alten zu jedem Quartalsbeginn um sich die neu ausgelegten Wartezimmerzeitschriften unter die Nase zu halten und etwas Gesellschaft zu haben. Jedes noch so kleine Kratzen im Hals wird da zum Anlass genommen. Also setz ich mich zwischen die alten, gesunden Menschen. Hab ich jetzt Vorurteile? Ja. Ich weiß. Aber das ich mich in denen bestätigt sehen kann, weiß ich, sobald die Damen und Herren aus dem Ärztehaus treten und ihre Krückstöcke in die Hände nehmen, um noch nach dem nächsten Bus zu rennen. Ich schweife ab. Dabei wollte ich auf meine heutige Krankenzimmernachbarin zu sprechen kommen, die sich heut von ihrer Tochter zum selben Arzt hat fahren lassen. Sie kommt jeden Mittwoch zu Besuch und ist aufgrund ihres festen Termins auch stets sofort dran. Wie sich das gehört. Nur heut muss sie ausnahmsweise außer der Reihe kommen, da sie über die Feiertage eine Erkältung bekommen hat. Ihre Tochter, ich und der Rest des Wartezimmers hören sich die Geschichte an, die sie mit lautstarkem Meckern von sich gibt. Denn sie sieht es nicht ein, heute, wie jeder andere, warten zu müssen. Was soll ich das sagen? Ich bin privat versichert und warte auch schon über eine Stunde. Gleiche Pflicht für alle. Ja, das denk ich. Aber ich bin ja noch nicht alt. Und früher hat man bei alten Menschen noch eine Ausnahme gemacht und sie vorgelassen. Heute ist das nicht mehr so. Und das merkt sie sich, „für später“. Gott weiß, was sie damit meint. Ein sehr viel später als jetzt kann es für sie ja nicht mehr geben. Und um dem I das Tüpfelchen zu geben: „Hier ist doch keiner von denen wirklich krank. Die konnten doch alle, ganz im Gegensatz zu mir, zum Arzt laufen? Was soll denen denn dann fehlen?“ Ich bin gereizt. Und sicher, die türkische Familie neben mir (andere Seite) wäre es auch, wenn sie die gute Frau verstehen könnte. Aber der abschätzende Blick der Alten spricht sowieso Bände. In diesem Moment möchte man zu ihr treten und sie darüber aufklären, dass sie, nur weil sie alt, sehr alt, fast tot, ist, nicht das Recht hat einen derart zu beleidigen. Genauso, wie sie einem auch mal aus dem Weg gehen kann, wenn man mal wieder mit fünf Einkaufstaschen den Weg nach Hause nimmt. Und genauso, wie sie an einer roten Ampel stehen bleiben kann, wenn es sonst schon zu nichts reicht. Stopp. Ich werde bösartig. Und ich habe gar kein Problem mit alten Menschen. Nur eben, wenn sie sich Sachen erlauben, die sich sonst keiner wagen darf, allein mit der Begründung, früher als man selbst geboren zu sein.
Ich werde aufgerufen und möchte dabei nichts lieber als auf mein Sofa zurück. Das ist innerhalb der letzten Tage sowieso schon eins mit mir geworden. Mit mir, meiner Decke und meiner Wärmflasche. Mein Buch ist irgendwo zwischen den Falten der Decke verloren gegangen. Ich habe auch langsam das Gefühl immer kleiner zu werden, um schlussendlich in den Ritzen zwischen den Kartoffelchipsresten und zerknüllten Papiertaschentüchern unterzugehen. Und die Welt von dort drunten zu beobachten, wie sie sich auch so weiterdreht.

Titel: Totentanz
Autor: James Herbert
Verlag: Lübbe
Preis: DM 14,90

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