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18 März 2010

Die kleine Figur meines Vaters


Ich rubbel und rubbel meine Teekanne. Ich brülle verzweifelt hinein. Ich will ihn locken, hab ich doch nur einen Wunsch. Es müssen nicht gleich drei sein. Bin da ganz genügsam. Nur, es möge doch bitte endlich Freitag sein. Aber nix tut sich. Jeden Montag dasselbe. Ich schlepp mich durch die Woche, um dann in zwei Tagen den Schlaf nachzuholen, der grundsätzlich auch in der Woche von Vorteil wäre. Die Wochen sind momentan so voll, dass ich meist schon nicht mehr weiß, was ich eigentlich am Vortag getan habe. Keine Zeit drüber nachzudenken und den Speicher mit Erinnerungen voll zu hauen. Das einzig Wichtige scheinen im Moment nur die roten Aktendeckel zu sein.
Aktendeckel, die einem kurz vor der Mittagspause um halb vier mit den Leichen vom Wochenende überraschen. Die einen dann zu der Überlegung bringen, ob es biologisch möglich ist, sich erst die Halsschlagader und dann die Pulsschlagadern aufzuschneiden. Und ob man dem blutbefleckten Abschiedsbrief glauben soll.
Aktendeckel, die eine Zeugenvernehmung von einem erfordern. Geladen, nicht kommend, auf Vorführung wartend. Der Geruch gewohntem Bierkonsums erfüllt den Raum. Ich fülle den Fragebogen für ihn aus. Die Ordnungsbehörde den seit sechs Jahren abgelaufenen Personalausweis. Der Heimweg an der Drogerie vorbei zeigt, dass das Erfolgsrezept für 4,99 € in einem Pappkarton zu kaufen ist.
Aktendeckel, voller freigesprochener Nazis und Betrüger. Aber der, auf den man sich die ganze Woche freut, den darf man nicht sehen. Nicht anklagen. Nicht zur Sau machen. Sondern statt dessen lesen, dass Frau und Kind dem Papa verziehen haben. Die Faust im Gesicht. Die geklammerte Nase.
Aktendeckel, die in 90 Minuten nicht mehr auf dem Tisch liegen dürfen. Durch die der Chef zum ersten Mal das Wort an einen wendet. Was irritiert. Ich hab mir den Pappkarton doch nicht gekauft, und einen Rock hab ich auch nicht angezogen. Aktendeckel mit Unfallopfern, Obduktionsberichten, nicht geöffneten Airbags, Schamhaaruntersuchungen, Cholerikern, und und und ….
Worüber ich mich am Ende dann freue. Nun ja, meine Teekanne hat keine schwarzen Flecken mehr.

Titel: Die kleine Figur meines Vaters
Autor: Peter Henisch
Verlag: dtv
Preis: € 8,90


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