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05 Januar 2011

Der Reisekamerad


Manche Menschen haben Ähnlichkeit mit einem Verkehrsunfall insoweit, als dass man nicht aufhören kann, sie anzustarren. Gerade, wenn das Klischee in Person neben einem an der Haltestelle steht. Einsachtzig groß und grob geschätzt auch breit, schwarze Turnschuhe mit fettem N an der Seite, schwarze Jogginghose (also known as Haushose) und schwarzer Sweater (oder eben Kapuzenpullover). Keine Haare, ununterbrochen rauchend und schon die erste Fahne in der Luft. Hacke an Hacke. Furchtlos und beharrlich prangt in großen Buchstaben auf dem Rücken. Ich frage mich, was passiert wohl wenn ich ihm jetzt auf die Schulter klopfe „Entschuldigung Herr Steinar, ich glaube Sie haben da einen Druckfehler und ich würde das, wäre ich Sie, reklamieren. Bei „furchtlos“ müsste das R vor das U und nicht dahinter und bei beharrlich- da fehlt mit dauerarbeitslos ein ganzes Wort. Klingt zwar nicht so arisch, aber wir sollten doch schon bei der Wahrheit bleiben, finden sie nicht?!“ Ob er mich überhaupt verstehen würde. Oh man, Bus bitte komm gleich um die Ecke gefahren, bevor ich die Idee vor lauter Langeweile umsetze und dabei womöglich meinen Urlaub aufs Spiel setze. Die Busanzeige an der Haltestelle springt willkürlich von „8 Minuten“ auf „0 Minuten“ über „Stau“ zu „wegen Wintereinbruchs kommt der Bus heut wann er will“. Ich muss mir auf die aufgesprungenen Lippen beißen, bis sie blutig sind und tapfer auf die Anzeige über der Glatze starren. Nur nichts sagen, nur nichts sagen, nur nichts sagen. Zwölf Minuten lang. Dann kommt der Bus. Sieben Minuten später bin ich am Bahnhof. Denn ich bin mutig (und hab ehrlich gesagt auch keine andere Wahl), ich fahr Zug. Trotz dass es in den letzten zwei Tagen zwei Meter geschneit hat und auf den Straßen eine zwei Zentimeter dicke Eisschicht liegt. Und während auf dem Nachbargleis durchgesagt werden muss „Düm düm düm- Werte Fahrgäste, der ICE mit der Zugnummer was weiß ich nach Frankfurt fährt heute leider außerplanmäßig voraussichtlich acht Stunden später ab!“ rühmt sich mein Zug mit allein 5 Minuten Verspätung. Was mich freut und noch hoffen lässt. Die ersten zwei Stunden verlaufen ohne Störung. Bis zum ersten umsteigen. Umsteigen muss ich auf meiner Fahrt oft. Mit Umstiegszeiten von vier bis sechs Minuten. Gut, das macht nix, da ja praktisch jeder Zug Verspätung hat. Mein erster Anschlusszug: dreißig Minuten. Und vorher muss einer ausgefallen sein, denn es ist am Bahnsteig so voll, dass ich von hinten ein Cello in den Rücken gedrückt bekomme und vor mir nur noch das Gleis ist. Ich steh über der weißen Linie und muss unwillkürlich an die Horrorgeschichten von spontanen Aggressionsschüben gepaart mit kleinen Schubsern denken. Im Zug dann entsprechend genauso voll. Zwar ohne Gleis vor mir, dafür aber mit Toilettentür am Ellenbogen. Zarter Chemiegeruch. Für eineinhalb Stunden bis zum ersten Halt. Der Großteil steigt aus. Ich nicht. Ich steh im Gang und damit im Weg. Vier Meter vor mir: ein freier Sitzplatz. Den muss auch schon einer von außen gesehen haben. Denn während noch nicht die Hälfte von denen die austeigen wollen, sich auch wirklich raus quetschen konnte, kommt ein zweites Klischee und drängt sich rein, um alles noch mehr zu verstopfen: Sechzig Jahre auf dem Buckel, Gehstock in der Hand, Gischt in den Fingern und Falten im Gesicht, aber dennoch blitzartig unheimlich agil. So sehr, dass er innerhalb von Sekundenbruchteilen, allem Protest zum Trotz plötzlich hinter mir steht um mit mir um diesen Sitzplatz zu kämpfen. Da er hinter mir ist, hat er schlechte Karten. Denk ich. Er sieht dies nicht nur anders, er sieht auch was anderes. Die Strippe meines Rucksackes. Die hängt auf dem Boden. Also macht er tückischer weise folgendes: von hinten drücken bis ich weit genug weg bin, auf die Strippe treten und mich damit ruckartig zu Boden reißen. Ich lieg am Boden und kann das nicht fassen. Während er mit einem für so einen kleinen Menschen recht großen Schritt über mich steigt, rufe ich dass das so nicht geht. „Musst du halt das nächste Mal deinen Rucksack etwas höher tragen!“ kichert er mich an und tänzelt auf den Sitz. Ich platze. Ich weiß, es ist sozial nicht adäquat alten Menschen an die lederne Gurgel zu springen, aber ich täts jetzt gern. Beruhigend wird mir auf die Schulter geklopft, „Komm, der is das nicht wert!“. Ich bin versucht das anders zu sehen, aber wo er recht hat. Ich hab ja einen Koffer auf denen ich meinen Hintern bis zur nächsten Station ausruhen kann. Und dann muss ich nur noch einmal umsteigen. Zwanzig Minuten später, die auch der eingefahrenen Verspätung entsprechen und zur Folge haben, dass der Anschlusszug (der einzige ohne Verspätung wie es scheint) bereist abgefahren ist, befinde ich mich im einzigen Cafe des Bahnhofes und warte weitere eineinhalb Stunden, in denen ich das Geld, was ich nach meinem Fahrgastrechteantrag zurück bekommen müsste, in Kaffee und Plätzchen investiere. Und wie es im Leben ist, behält man sich das Beste stets für den Schluss auf. Der Zug steht bereits zehn Minuten vor Abfahrt am Gleis und man meint, jetzt kann nichts passieren. Es ist sogar noch genügend Platz und ich richte mich für die nächsten, hoffentlich letzten, zwei Stunden häuslich ein. Mit mittlerweile fast ausgelesenen achthundert Seiten dicken Schmöker und belegten Brötchen. Bis zur ersten Ansage im ICE fünf Minuten nach offizieller Abfahrt: „Sehr geehrte Damen und Herren, wir würden gerne losfahren, aber der Zugführer ist aufgrund einer Zugverspätung leider noch nicht anwesend!“ Okay. Zehn Minuten später die zweite Ansage: „Sehr geehrte Damen und Herren, es begrüßt sie ihr Zugführer. Leider müssen wir Ihnen mitteilen, dass sich die Weiterfahrt um unbestimmte Zeit verzögert, da es ein Türenproblem gibt!“ Noch immer okay. Dann, die dritte Ansage: „Meine Damen und Herren, sie befinden sich im ersten Wagen des Zuges. Eine Weiterfahrt ist erst möglich, wenn wir von dem hinteren Wagen überholt werden! Die Weiterfahrt verschiebt sich daher weiter um unbestimmte Zeit“. Nicht mehr okay. Genauso gut hätte man doch sagen könne, wenn die Hölle zugefriert, mir ein Kamm gewachsen und der Mond geplatzt ist. Wie um alles in der Welt, soll eine Überholung im Bahnhof denn genau möglich sein? Das weiß der Zugführer, der mittlerweile durch den Wagen läuft und sich bei jedem entschuldigt, selbst nicht. Er zuckt mit den Schultern, meint es gehe schon irgendwann irgendwie weiter. Eventuell. Vielleicht. Und dann die vierte Durchsage (von wem auch immer, der Zugführer steht ja vor mir): „Sehr geehrte Damen und Herren, wir können derzeit leider keine Höchstgeschwindigkeit fahren.“ Scherzkeks.
Aber was soll‘s, über die Bahn aufregen, das kann ja jeder. Es gibt auch lustige Dinge zu erzählen. Nicht viele, aber es gibt sie. Sie sind nicht der Bahn, sondern eher ihren Passagieren zu verdanken, aber man will ja nicht meckern. Ich kann mich durch drollige Gespräche der Fahrgäste unterhalten lassen. Zum Beispiel die zwei Mütter in den Dreißigern hinter mir: „Also ich hab ja ne Laktoseintoleranz und deswegen kann ich kaum noch was essen. Keinen Käse und keine Schokolade mehr."
„Aber in Rohmilch ist doch keine Laktose drin, dacht ich.“
„Doch, doch. Und mit der Intoleranz ist wirklich nicht zu spaßen. Immer wenn ich Käse oder Schokolade esse, bekomme ich nämlich ganz dicke Arme.“
Jetzt weiß ich woher das mit den dicken Oberarmen bei Frauen kommt. Nein, ich bin in dem Moment kurz davor mich zu räuspern während ich mich umdrehe um zu sagen, dass ich das kenne. Denn gerade wenn ich viel Schokolade esse, bekomm ich auch immer einen ganz dicken Bauch. Ein anderes Gespräch zwischen zwei Männern. Männer sind grundsätzlich gesprächsarmer denkt man, aber:
„Ey, ich geh innen annern Wachen, da is n Klo!“
„Hä?!“
„Ey, ich geh innen annern Wachen, da is n Klo!“
„Hä?!“
„Ey, ich geh innen annern Wachen, da is n Klo!“
„Hä?!“
Das dann zehn Minuten lang, bis die Blase zu sehr gedrückt hat und Mann Nummer eins einfach innen annern Wachen gegangen is. Und dann ein kleines aber feines Gespräch mit dem Servicepersonal:
„Wollen sie nen Kaffee oder nen Snack?“
„Haben sie auch was anderes Heißes zu trinken?“
„Ja sicher, wir hätten noch Snickers!“
„Gut, die hätt ich dann gern in Größe 39!“

Titel: Der Reisekamerad
Autor: Hans Christian Andersen

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