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17 Dezember 2009

Ein unsichtbares Land


Absolute Reizüberflutung die letzten beiden Wochen. Vor blinkenden Lichtern kann man nicht entkommen. Genauso wenig dem Glühweingeruch, Weihnachtsliedern, rot gequollenen Taschentuchnasen und Nelkengeschmack. Schlimmer aber als das, ist, dass man das, was die Zeit ausmachen soll, nicht hat. Ruhe und Zeit für sich sind eine Imagination. Und dass das zu Weihnachten selbst nicht anders wird, ist klar. Da sind andere Sachen wichtiger. Gänsekeule, das größte Geschenk unterm Tannenbaum, Kuchen. Dann kommen die Umtauschtage, die guten Vorsätze und die große Jahresendsauferei. Um dieses Jahr alles anders zu machen, war was Großes geplant. Sieben Tage totale Ruhe. Und zwar, weil es nicht anders geht. Weil dort, wo ich bin, außer den Allerallerengsten, kein Mensch ist. Niemand. Nirgends. So wars geplant. Statt dessen erzählt mir das Auswärtige Amt, das da, wo ich bin, und kein anderer sein sollte, doch jemand ist. Jemand der die Einsamkeit genauso mag. Und der andere Menschen nur erträgt, wenn er sie als Geisel hält. Ok. Das ist mal eine Ansage. Ich bin so schon kein risikoreicher Mensch, aber die Aussicht, auf ein paar Bilder, die sonst nirgends auf die Speicherkarte zu bekommen sind, lassen mich ernsthaft abwägen. Ein paar Tage Ruhe mit dem stetig aufregendem Gefühl im Nacken, dass gleich, jeden Augenblick, alles vorbei sein kann oder wieder mit der Wärmflasche auf der Couch liegen, mit dem Wissen, dass nix anders wird. Sonne oder Eisblumen. Sand oder graue und, wenn wir positiv sind, gefrorene Pfützen. Couscous oder Klöße. Letztendlich komm ich zu dem Ergebnis, dass noch nicht alles auf der Löffelliste abgehakt ist. Ich kann immer noch nicht backen, habe noch keinen Hund gehabt und meine eigenen Grenzen kenn ich auch noch nicht. Außerdem glaube ich nicht, dass ich Freunde oder Familie hab, die so reich sind, dass sie das Lösegeld ohne mit der Wimper zu zucken zahlen können. Und das, um mein Leben zu retten, alte Genossen meines neuen Bekannten aus dem Gefängnis gelassen werden. Ich glaube nicht, dass die Gastfreundschaft in den Höhlen ewig dauert. Wasser ist ein zu teures Gut dort unten. Ich glaube auch nicht, dass ich um jeden Preis ins Fernsehen will. Die Bilder, die da von einem bei der Tagesschau gezeigt werden, sind sowieso immer ziemlich unvorteilhaft. Zu viert durch die Wüste, statt der Raketen nur Sternenhimmel, das Lagerfeuer und wir ist also nicht. Es hätte so romantisch sein können. Statt dessen: the same procedure as every year.

Titel: Ein unsichtbares Land
Autor: Stephan Wackwitz
Verlag: fischer
Preis: € 8,90

1 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Klasse geschrieben! Besser the same (safe) procedure than the last! Freu mich dich bald mal wieder zu sehen!
Tauschnee-ige fränkische Vorweihnachtsgrüße,
*F*

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